Roth, Rinke u.a.

Gezi bleibt

Stimmen zum Aufbruch in der Türkei

Der Gezi-Park in Istanbul ist, vorerst, gerettet. Aber was bleibt? Es bleibt ein kultureller und politischer Einschnitt, den diese Anthologie mit Texten von nicht-türkischen Augenzeugen der Proteste beleuchtet. Persönliche Erlebnisse, Analysen, Berichte zur türkischen Zivilgesellschaft.

4,99 

4,99  E-Book

etwa 200 Seiten auf dem Smartphone

ISBN 978-3-944543-06-2
E-Book

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August 2013

Inhalt: Gezi

Der Gezi-Park ist ein großer städtischer Park in der Kommune Beyoğlu in Istanbul neben dem zentralen Taksim-Platz. Proteste gegen eine Neubebauung des Parks wurden im Mai 2013 der Ausgangspunkt landesweiter Proteste gegen die Regierung.

Wie erlebten nicht-türkische Augenzeugen die türkische „Elektrisierung“ (Moritz Rinke) der Protesttage im Sommer 2013?

Die Politikerin Claudia Roth etwa wünscht sich die Aufhebung der Selbstblockade der politischen Klasse, die Journalistin Sabine Küper-Büsch analysiert die kreative Ästhetik des Widerstands und die neuen Protestformen in der Türkei, der britische Autor Tariq Ali sendet einen revolutionären Gruß an die Protestgeneration, eine Touristin erzählt von ihren Erlebnissen zwischen Blauer Moschee und Straßenblockaden und eine Erasmus-Studentin beschreibt die Stimmung unter Studierenden.

Lea Heim:

(…) Die Laptops und Smartphones liefen in diesen Tagen heiß, wenn wir uns in unserer Zentrale aufhielten. Schon morgens, nach wenig Schlaf, war die erste Tat der Blick in sämtliche soziale Netzwerke. Die einzige Möglichkeit, sich vernünftig zu informieren. Das, was mich neben der massiven Gewalt am meisten entsetzte und immer noch entsetzt, war und ist die fehlende, zensierte oder falsche Berichterstattung der türkischen Medienmehrheit. Auch die internationale Berichterstattung – ich habe natürlich besonders die deutsche verfolgt – kam mir zu Beginn etwas lückenhaft vor.

Zu Hause zu sitzen und nichts zu tun, war das Schlimmste, wenn es draußen zu gefährlich wurde, meine türkischen Freunde aber trotzdem hinausgingen. Ich habe mir die sorgenvolle Wartezeit damit vertrieben, einen Blog zu schreiben, Informationen, Bilder und Videos zu sammeln und online zu stellen. An den Nachmittagen sind wir oft über den Taksim-Platz spaziert und haben die aufgeräumte, aber von Auseinandersetzungen gezeichnete Lage begutachtet. Jung und Alt, Kurden und türkische Nationalisten, Atheisten, (anti-kapitalistische) Moslems und die Fans der verschiedenen Fußballclubs, um nur einige Gruppierungen zu nennen, schleppten Seite an Seite Essen, Wasser, Zelte, Decken, Bücher und so fort in den Park. Sie bauten eine Gezi- Stadt auf. Einen Ort, an dem das friedliche Zusammenleben einer Gruppe, die heterogener nicht hätte sein können, problemlos möglich war. Ein Gezitopia, das Menschen zusammenbringen konnte, die sich vorher kaum „Guten Tag“ gesagt hätten. Ich saß einige Abende im Park, führte Gespräche über die Proteste und genoss die wunderbare Atmosphäre.

Da waren aber auch diese Momente, in denen das Gas von der Küste nach oben wehte und ich wusste, dass Menschen ihre körperliche und seelische Gesundheit und ihr Leben riskierten, um für ihre Rechte in einem eigentlich demokratischen Land einzustehen. Diese Momente, in denen ich dachte: „Sollte ich jetzt auch da unten sein? Wie kann ich den Widerstand noch unterstützen?“ Und immer wieder die Erleichterung, wenn meine Freunde mit von Tränengaslösung verschmierten Augen, unversehrt, aber benommen von Fassungslosigkeit und Angst zurückkehrten. (…)

Moritz Rinke:

(…) Ich habe mit vielen türkischen Freunden gesprochen, die alle jeden Tag im Gezi-Park waren und übernachteten. Mir wurde sehr schnell klar, dass hier etwas für die Türkei sehr Ungewöhnliches passiert. So eine Art demokratische Initiation. Eine Entdeckung, dass es geradezu befreit und verbindet, endlich Nein zu sagen. Und dass der entdeckte Mut immer mehr Menschen mitnimmt. Wie eine Elektrisierung. Als ob plötzlich überall das Licht angeht. Und wie phantasievoll. Der Protest hatte auch etwas ungemein Kreatives. Bei Ionesco verwandeln sich die Menschen in einem Theaterstück in Nashörner, hier verwandeln sich alle in Artisten des Widerstands. (…)

Tariq Ali:

(…) Ein Sache noch, mit der ich mich nicht beliebt machen werde, aber von der ich meine, dass ich sie sagen soll. Manchmal ist es schwierig, in der Euphorie einer Massenbewegung, zu verstehen, wann ein vorübergehender Halt eingelegt werden sollte. Ich sage: vorübergehend. Damit der Feind euch nicht unterkriegen kann. Wenn die Bewegung anfängt zu schwächeln und immer weniger Menschen kommen, wird das von einigen als Niederlage interpretiert werden. Aber wenn ihr die Initiative ergreift und entscheidet, dass, aus welchem Grund auch immer, der richtige Zeitpunkt gekommen ist, die Besetzung des Platzes zu beenden und regelmäßige Treffen ein- bis zweimal im Monat überall im Land abzuhalten, zeigt ihr, dass ihr immer noch da seid und dass ihr immer noch solidarisch miteinander seid, so solidarisch wie nach den Ereignissen im Gezi Park.

Das ist eine der wichtigsten Lehren aus unseren eigenen Kämpfen. Unsere Feinde versuchen, uns zu spalten, zu brechen, sie schicken Agents provocateurs, um uns zu stören, mit dem Ziel, unsere Einheit aufzubrechen. Eine Entscheidung darüber, was zu tun ist, trefft ihr ganz allein. Je mehr damit einverstanden sind, umso besser. All dies ist schwierig umzusetzen. Darüber müsst ihr euch auch im Klaren sein.

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Die Autoren und Autorinnen

Tariq Ali wurde 1942 in Lahore geboren. Der britische Autor, Filmemacher und Historiker war während der Proteste rund um die Besetzung und Räumung des Gezi-Parks für ein paar Tage in Ankara.

Lea Heim, geboren 1985 in Hannover, lebt seit 2010 in Berlin, wo sie Deutsche Literatur und Europäische Ethnologie studiert. Von Februar bis Ende Juni 2013 machte sie ein Erasmus-Gastsemester an der Marmara Üniversitesi und berichtete regelmäßig auf ihrem Tumblr spinnanski über den Fortgang der politischen Ereignisse.

Sabine Küper-Büsch, geboren 1966 in Werne, lebt seit 1992 in Istanbul. Sie arbeitet als Autorin für Dokumentarfilme, TV-Beiträge und Print-Publikationen und ist die Chefredakteurin von inenart.eu, ein künstlerisches Internet-Portal mit Sitz in Istanbul.

Anke Oßwald, 1979 in Salzwedel/Altmark geboren, arbeitet in einer Berliner PR-Agentur. Im Juni 2013 fuhr sie das erste Mal nach Istanbul.

Der Autor und Dramatiker Moritz Rinke, geboren 1967 in Bremen, hat von Juni bis August 2013 ein Stipendium in der Villa Tarabya in Istanbul, um die Filmfassung seines letzten Stücks zu erstellen. Er hat die Proteste vor Ort miterlebt.

Claudia Roth, geboren 1955 in Ulm, ist Bundesparteivorsitzende der Partei Bündnis 90/Die Grünen. Sie flüchtete in der Nacht der Räumung des Gezi-Parks in das Divan-Hotel, nachdem sie eine Attacke mit Tränengas erlitten hatte.

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